Quelle: „Die Suchtfibel“ Ralf Schneider

Was ist das Besondere an der Medikamentenabhängigkeit?

Medikamente oder Arzneimittel sind dazu bestimmt, Krankheiten zu heilen und zu lindern.
Es ist deshalb schwer einzusehen, dass ihre Einnahme selbst eine Krankheit sein soll, zumal nicht alle Medikamente abhängig machen.
Zusätzlich erschwert ist die Erkennung der Medikamentenabhängigkeit, wenn der betroffene die Mittel anfangs zur Bekämpfung von Beschwerden eingesetzt hat, die bei fortgesetztem Missbrauch wiederum als Entzugserscheinung auftreten. Dies betrifft vor allem Schmerzen, Unruhe, „Nervosität“, Spannungsgefühle und Angst. Da solche Erscheinungen noch sehr lange nach dem Absetzen des Mittels weiter bestehen, verwechselt der Abhängige leicht Ursache und Wirkung und nimmt die lang dauernden Entzugserscheinungen fälschlich als Beweis dafür, dass seine Probleme rein körperlicher Natur und nur durch Operationen oder Medikamente behandelbar sind. Lösen kann man sich aus der (beginnenden) Abhängigkeit nur, wenn man die körperlichen und seelischen Beschwerden als die der Seele versteht und anstelle von Medikamenten folglich andere Behandlungsarten wählt.
Weiterhin wird die Entwicklung einer Abhängigkeit dadurch erleichtert, dass man sich sein Suchtmittel mit „weißer Weste“ bei den „weißen berufen“ Arzt und Apotheker holt. Da der Medikamentenabhängige keine „Fahne“ hat, wird er sogar noch für die Folgen seines Missbrauchs bemitleidet: Verletzungen durch Stürze, Krankenhauseinweisungen nach Kreislaufkollaps, Schläfrigkeit, Schwächeanfälle, schleppende Sprechweise, Bettlägerigkeit und Vergesslichkeit werden auch von anderen fast immer als Ausdruck einer Krankheit missverstanden. Deshalb raten nicht selten die Angehörigen sogar noch den Gebrauch stärkerer Medikamente oder den Arztwechsel an.

Bei der Medikamentenabhängigkeit ist das Verhältnis der Geschlechter umgekehrt zu dem bei Alkoholabhängigkeit. Diese ist parallel zur Verschreibungshäufigkeit von Beruhigungsmitteln zu sehen: Fast 70 % aller Verschreibungen werden für Frauen ausgestellt.

Da die Verordnungen auch mit zunehmendem Alter steigen, wird die Medikamentenabhängigkeit bei alternden Menschen in Zukunft ein gesellschaftliches Problem werden. Mit abnehmender Verantwortung, Anerkennung, Liebe und sozialer Einbindung steigt der ärztliche verordnete chemische Ersatz dafür. Während der Psychopharmaka -Verbrauch pro Versicherten bei den 25 bis 29 jährigen noch bei vier rechnerischen Tagesdosen lag, stieg der Verbrauch bei den 40 bis 44jährigen Frauen auf zwölf und bei den Männern auf neun Tagesdosen. Die 60 bis 64jährigen Frauen erhielten jedoch schon 34 rechnerische Tagesdosen (Zahlen von 1987).
Während ein Alkoholiker stets über den Missbrauch seines Mittels in die Abhängigkeit gerät, ist dies bei der Medikamentenabhängigkeit nicht zwingend notwendig. Gerade bei den Beruhigungsmitteln vom Benzodiazepin – Typ kennen wir die so genannte Niedrigdosisabhängigkeit, die selbst bei vorschriftsmäßiger Dosierung auftritt, wenn der Arzt das Mittel länger als 4 bis 6 Wochen verschreibt. Die Hochrechnung der Kassendaten legt nahe, dass 740.000 Menschen an die ständige Einnahme niedriger Dosierungen gewöhnt sind (nur alte Bundesländer).

Insgesamt ist es für den Medikamentenabhängigen noch schwerer als für den Alkoholabhängigen, sich als abhängig wahrzunehmen und anzunehmen.

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