Quelle: "Die Suchtfibel"

Die Klärung des früheren und heutigen Bedeutungsgehaltes von „Sucht“ kann eingangs helfen, voreilige Schlüsse zu vermeiden und das Nachdenken darüber anzuregen, was wir selbst mit dem Begriff verbinden.

„Sucht“ und „Abhängigkeit“ haben im heutigen Sprachgebrauch nahezu die gleiche Bedeutung. Da sucht in der Vergangenheit mit vielen negativen Bewertungen verbunden war, hat die Weltgesundheitsorganisation WHO offiziell in ihren Schriften das Wort „Sucht“ durch „Abhängigkeit“ ersetzt. Deshalb verwenden auch wir in diesem Buch vorwiegend den Begriff Abhängigkeit. „Sucht“ weist aber auf Anteile des Verhaltens und Erlebens hin, die über das hinausgehen, was wir im allgemeinen mit „Abhängigkeit“ verbinden: abhängig sind wir von etwas, süchtig sind wir nach oder auf etwas.

Sucht ist ein Wort, das nichts erklärt, sondern lediglich ein bestimmtes Verhaltensmuster abgekürzt beschreibt. Es ist deshalb völlig unsinnig zu behaupten, dass jemand viel trinkt, weil er süchtig ist. Auf die Frage nämlich, wie man denn darauf kommt, jemand als alkoholsüchtig zu bezeichnen, bekäme man ja die Antwort, dass sie oder er eben zu viel trinkt. Das nennt man einen Zirkelschluss. Ein solcher Schluss ist sinnlos und fördert höchstens die Denkfaulheit, weil man glaubt, mit „Sucht“ eine Antwort auf alle Fragen gegeben zu haben.

Das Wort „Sucht“ kommt nicht von „suchen“, sondern leitet sich ab von „sich“, d. h. krank. Deutlich wird das in den früheren Krankheitsbezeichnungen der Bleichsucht, Gelbsucht, Wassersucht, Schwindsucht oder Fallsucht. Etwas Hinfälliges und Schwächliches klingt hier an. In unserm heutigen Sprachgebrauch meinen wir mit Sucht jedoch mehr das Überhandnehmen einer Verhaltensweise, das unnormal oder störend wirkt. In diesem Sinne spricht man von Geltungssucht, Selbstsucht, Arbeitssucht, Habsucht, Spielsucht, Putzsucht, Herrschsucht, Rekordsucht, Profiliersucht oder Naschsucht. Außerdem werden mit Sucht auch manche starken Gefühle bezeichnet, die sich der willentlichen Beeinflussung weitgehend entziehen, wie etwa Tobsucht, Sehnsucht, Eifersucht oder Rachsucht. Besonders deutlich wird der Aspekt der Getriebenheit und des Ausgeliefertseins an eine seltsame Macht in der sogenannten Mondsucht.

Laut Duden hat man Sucht früher übertragen für „ Sünde, Leidenschaft „ gebraucht. Das sündige klingt auch heute noch manchmal an, wenn man über Sucht spricht.Eine suchtähnliche Entwicklung kann fast alle menschlichen Aktivitäten erfassen, denn kein Bedürfnis des Menschen ist instinktartig begrenzt. Den Begriff „süchtig“ verwendet man aber meistens erst dann für ein Verhalten, wenn ein Verlust von persönlicher Freiheit damit verbunden ist, wenn man sich in bestimmter Hinsicht nicht mehr ausgewogen entscheiden kann. Das betreffende Verhalten mag einen selbst oder andere zwar stören, aber man hört trotzdem nicht damit auf. In dieser Hinsicht hat Sucht Ähnlichkeit mit sogenannten zwanghaften oder manischen Verhaltensweisen. Dieser Freiheitsverlust ist eine Beschädigung der Menschenwürde und deshalb für manche Süchtige der zentrale Grund für die Umkehr.

Auf Grund des Verlustes der persönlichen Freiheit verändern sich einige Persönlichkeitszüge. Dies geschieht allerdings meist schleichend und bleibt lange Zeit unbemerkt. Beispielsweise übt süchtiges Verhalten einen Zwang zum Selbstbetrug und zur Lüge aus, da der Betreffende ohne ein verdrehtes Erklärungssystem für sein Verhalten vor sich und anderen schlecht dastehen würde. Und das „Gut – vor – sich – dastehen“ ist schließlich ein wesentliches Motiv für das Handeln der meisten Menschen.

Eine weitere Besonderheit der Sucht ist die mit der Benennung verbundene Wertung. So hängt es z.B. auch von der Art und Qualität meine Beziehung zu einem Briefmarkensammler ab, ob ich sage, dieser habe einen Spleen oder eine Marotte, er pflege ein ihn sehr in Anspruch nehmendes Hobby, er erliege seiner Sammlerleidenschaft, er sei besessen von der Besitzgier nach Briefmarken oder aber er sei süchtig nach Briefmarken. Wegen der in „Sucht“ enthaltenen Wertung als dauerhaft hilflose und charakteristisch beschädigte Person wehren sich die meisten Menschen dagegen, „süchtig“ genannt zu werden.

Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstkontrolle, soziale Funktionsfähigkeit und Gesundheit sind hochgeschätzte Werte unserer Gesellschaft. So lange jemand seinen Leidenschaften frönt oder sich ausschweifenden Genüssen hingibt, ohne dass seine Gesundheit, soziale Eingliederung oder Arbeitsfähigkeit darunter leiden, wird ihm oder sie kaum jemand als süchtig oder gar suchtkrank bezeichnen. Dies tut man erst dann, wenn diese Werte verletzt werden, wenn das gesamte Interessenfeld des Menschen sich einzuengen beginnt und das sich dranghaft äußernde Verhalten immer öfter, aber mit immer weniger Befriedigung auftritt. Letztendlich ist dann zum Beispiel der Arbeitssüchtige am Ergebnis der Arbeit kaum noch interessiert, so dass das Arbeitsverhalten nicht mehr vom Erfolg und Ertrag gesteuert wird.

Entsprechen äußern auch viel Alkoholabhängige: „Eigentlich habe ich vom Trinken gar nichts gehabt.“ Diese Verselbstständigung der Sucht führt in ihrem weiteren Verlauf meist zu einer fortschreitenden Genussunfähigkeit und Freudlosigkeit.

Alle diese Anteile der Sucht werden in den drogenfreien Süchten – Spielsucht, Arbeitssucht, Eß – Brechsucht (Bulimie) usw. – bisweilen sogar deutlicher als bei den Drogensüchten. Das Positive an dieser Ausweitung des Suchtbegriffes liegt in der Verdeutlichung der Erkenntnis, dass die Droge nur ein Mittel, aber nicht das Wesen der Sucht ist. Das Negative daran ist der inflationäre Gebrauch des Wortes, der die Grenze zum Normalen verwischt. Wer viel liest, ist ja noch lange nicht lesesüchtig – allenfalls vermeiden die Vielleser andere Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse und Interessen wahrzunehmen, zu erweitern und zu befriedigen.

Es ist deshalb wenig sinnvoll, alle „Süchte in einen Topf zu werfen, da dies die Drogenabhängigkeit verharmlosen könnte. Außerdem enthalten die stoffgebundenen Abhängigkeiten einige wesentlichen Besonderheiten, die sie von den anderen Süchten unterscheiden: Die angestrebte Befindlichkeitsänderung kann im Extremfall ohne eigene Tätigkeit, allein durch das Einwirken der Droge auf das Zentralnervensystem eintreten, die Entzugserscheinungen im körperlichen Bereich sind zwangsläufiger und stärker als bei Tätigkeitssüchten und die körperlichen Folgeerkrankungen aufgrund der giftigen Wirkung einige Stoffe lassen den Krankheitscharakter offensichtlicher werden.

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