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Angehörige von Suchtkranken

Eine Problemanzeige

Zusammenfassung

Das Thema > Angehörige von Suchtkranken < ist bisher keine öffentliche Angelegenheit geworden. Dabei geht es um eine Bevölkerungsgruppe, von immerhin (geschätzt) 8 Millionen Menschen. Angesichts dieser fast krotesken Situation hat der Vorstand der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS ) auf meine Anregung hin beschlossen, das Jahr 2000 zum > Jahr der Angehörigen in der Suchtkrankenhilfe < auszurufen. Dieser Perspektivewechsel soll deutlich machen, dass die Zahl der Mitleidenden Angehörigen größer ist als die Zahl der Suchtkranken und der Missbraucher. Es muss öffentlich werden, dass Angehörige oft lange Zeit wesentlich mehr und heftiger leiden als der oder die Suchtkranke. Sie tun das oft stumm und werden deshalb längst nicht wahrgenommen wie Abhängige. Diese finden durch ihr Auftreten, durch ihre Kunst ihrer narzisstischen Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit viel mehr Beachtung. Auch Fernsehspiele oder Kinofilme drehen sich nur ausnahmsweise um die Sorgen der Angehörigen. > Der Trinker< (nach Fallada, polytoxikoman) ist natürlich spektakulärer, vor allem wenn er mit dem früheren >Trinker der Nation< besetzt ist, als seine einsam über viele Jahre bis Jahrzehnte alles erleidende und erduldende Ehefrau.

Wer fragt eigentlich danach, wie es ihr geht?

Co-Abhängigkeit ist überwiegend, aber nicht ausschließlich, ein Frauenproblem. Auch an den Veröffentlichungen zum Thema ist dies ablesbar: Neben vielen Frauenbüchern gibt es nur wenige Beiträge von Männern. Sicher sind viele Züge des Syndroms – nicht der Krankheit – Co-Abhängigkeit geschlechtsspezifisch. Frauen sind biologisch für den Schutz von Leben vorbereitet. Süchtige oder Menschen, die zur Sucht neigen, haben fast bewundernswerte Mechanismen, in ihren Partnerinnen die Mutterinstinkte anzusprechen. In jeder Partnerschaft sind Elemente von Bruder/Schwester, Vater/Mutter/Kind, Geliebter/Geliebte in unterschiedlichen Anteilen vertreten. Es wird problematisch, wenn der mittlere Bereich überhand nimmt. Männer verhalten sich >wie ein weiteres Kind<, beklagen sich gleichzeitig darüber, dass sie so behandelt werden, dass sie z.B. als Sexualpartner nicht mehr in Frage kommen oder abgelehnt werden.

Die Frage, warum und in welcher Konstellation umgekehrt sich trinkende Frauen > aussuchen<, wurde noch kaum untersucht. In Selbsthilfegruppen sind sie meistens ohnehin Exoten, gehören zu einer Minderheit von etwa 10 %.


Defizite in der Forschung


Warum und wie Partnerinnen an Menschen geraten, die schon süchtig sind oder es später werden, müsste genauer untersucht werden. In Eheseminaren sollte die Abklärung möglicher Suchtgefährdung sicher einen größeren Raum einnehmen als bisher. Nach meinen Beobachtungen in über fünfzehn Jahren therapeutischem Umgang mit Suchtkranken und Angehörigen habe ich den Eindruck gewonnen, dass die > klassischen < Geschichten in der Tat häufig sind: Tochter eines Alkoholikers (egal ob als solcher schon identifiziert oder nicht) gerät an süchtigen bzw. suchtgefährdeten Partner, womöglich mehrfach in ihrem Leben. Auffallend aber auch, dass Co-Abhängige anderer Richtungen– Vater und/oder Mutter z.B. psychotisch, geistig oder körperlich behindert – viel anfälliger sind für derartige Partnerschaften. Wer Sucht oder Abhängigkeit gar nicht kennt, hat offenbar Schutzmechanismen im Sinne einer gesunden Abwehr, derartige Krankheiten zu meiden bzw. gleich zu benennen, wie z.B. die Freundin eines süchtigen Arztes.: Nach nur 14 Tagen ihr klares Statement: > Du bist krank! Du gehörst in Therapie. < Die Tochter eines Alkoholikers hätte bis zu einer vergleichbaren Haltung vielleicht ein Drittel ihres Lebens, eine schreckliche Ehe mit mehreren gemeinsamen Kindern, gebraucht.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier um eine Beschreibung von systemischen Tatsachen, nicht um Wertungen. Leicht könnte man sonst folgern:
> Geschieht der (Frau) doch ganz recht, wenn sie sich einen Alki aussucht! < oder
> Naja, so ganz in Ordnung ist die ja auch nicht. Irgend wie passt es schon. < oder gar, im Bewusstsein der Bevölkerung nicht ganz selten: > Der Mann ist doch eigentlich ganz okay, sogar richtig charmant. Auch wenn er manchmal nach Bier stinkt. Die Frau hat ihn wohl zum Suff getrieben.< Viele Menschen wissen nicht, dass Alkoholiker ein Doppelgesicht haben. In Sekundenbruchteilen – niemals vorhersagbar –kann der Charme des Suchtkranken in verletzende Aggressivität umschlagen. Hier tauchen Fragen von Schuld und Scham auf. Über Ersteres redet man allzu viel, über Letzteres viel zu wenig. Süchtige schämen sich häufig, Co – Abhängige praktisch immer. > Wie kann ich nur so blöde sein,, so zu handeln? Wenn ich das anderen erzähle, lachen die mich doch aus. Warum habe ich mich immer noch nicht getrennt, obwohl doch Anzeichen einer Besserung wahrlich nicht zu erkennen sind?< Angehörige schämen sich auch und vor allem für den Suchtkranken. Scham ist ein vernichtendes Gefühl. Damit auch noch an die Öffentlichkeit zu gehen, ist enorm schwierig. Deshalb scheuen viel zu viele Co – Abhängige den Weg zur Selbsthilfegruppe oder zu professioneller Hilfe. Allerdings werden sie hier auch allzu oft verständnislos abgewiesen. HelferInnen verschiedener Berufe haben oft viel zu wenig über Sucht und Co – Abhängigkeit gelernt. Die Gruppe der Ärztinnen vielleicht am wenigsten. Hilfe zu finden ist also schwierig. Nicht jeder ist so hartnäckig wie eine 17-jährige Patientin, Tochter einer alkoholkranken Mutter, die schon mit 12 Jahren zum Jugendamt ging und vergeblich um Hilfe flehte. Fünf Jahre später kam sie in eine Praxis. Die Mutter war inzwischen trocken geworden, hatte also viel schneller Therapie gefunden.

Die Entwicklung der Selbsthilfe für Angehörige von Suchtkranken

Die ersten eigenständigen Gruppen für Angehörige entstanden Anfang der 50er-Jahre in den USA im Bereich der Zwölf – Schritte – Gruppen. Bis 1949, so die Öffentlichkeitsformation von Al – Anon, nahmen die Angehörigen und Freunde an den Meetings der AA teil. Sie waren also – und das spiegelt die Situation z.T. bis heute – zunächst mehr ein Anhang der Suchtkranken als Menschen, die primär selbst Hilfe brauchten. In Deutschland begann es mit einer amerikanischen Al – Anon – Gruppe mit deutscher Beteiligung, bis 1967, also vor kaum mehr als 30 Jahren, die als erste deutsche Gruppe in das Al – Anon Weltregister aufgenommen wurde. !973 gab es die ersten Alateen Gruppe für Kinder von AlkoholikerInnen, seit einigen Jahren gibt es zusätzlich die ACA oder EKA – Gruppen für Erwachsene Kinder von Alkoholikern. 1998 zählte man immerhin fast 1.000 Selbsthilfegruppen nach dem AA – Modell für Angehörige im Bereich ganz Deutschlands.

Die Entwicklung in den anderen Abstinenz – und Selbsthilfeorganisationen war nicht ganz so deutlich. Auch hier konnten Angehörige schon immer an den Gruppen teilnehmen, eigenständige Angebote entwickelten sich eher zögerlich. Im Rahmen von Modellprojekten, die durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurden, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise ein verbandsübergreifendes Projekt zum Thema >Angehörige< durchgeführt. Die Guttempler in Deutschland führten ein Modell zum Thema >Kinder von Suchtkranken< durch. Dies vor dem Hintergrund, dass die Guttempler viel Erfahrungen im Bereich der Kinder – und Jugend-
arbeit haben.

Inhalte und Sinn der Angehörigengruppen

Als Beispiel sei hier wiederum das Programm der Al – Anon Gruppe zitiert: > Angehörige und Freunde können lernen, von ihren Problemen Abstand zu gewinnen und wieder zu sich selbst zu finden, Angst und Schuldgefühle abzubauen sowie durch eine neue zuversichtliche Einstellung ihr Leben wieder zu meistern, durch Erfahrungsaustausch sich selbst und die Krankheit Alkoholismus immer besser zu verstehen und damit Kraft und Hoffnung z gewinnen und zu vermitteln, den Alkoholiker durch ihr Verständnis zu ermutigen und zu unterstützen, sich durch das Praktizieren des Zwölf – Schritte – Programms selbst geistig zu entwickeln.
Anonymität, ein wichtiges Grundprinzip der Gemeinschaft, schafft eine Umgebung für Vertraulichkeit und gewährleistet Verschwiegenheit:< Zu Alateen (Kinder von Suchtkranken):> Ziel ist es, den Jugendlichen nahe zubringen, dass der Alkoholismus eines Elternteils oder eines engen Freundes nicht die ganze eigene Kraft und alle Gedanken beeinflussen und damit die eigene Lebensqualität beeinträchtigen muss. Die jungen Menschen lernen, sich von den Problemen zu lösen, ohne den Freundeskreis oder die Familien zu verlassen und ihre Eltern weniger zu lieben.<
Die meisten erwachsenen Kinder von Alkoholikern tragen die Probleme ihres Elternhauses ein Leben lang mit sich herum. Sie haben fast alle Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl, Schwierigkeiten und Veränderungen, neigen zu komplizierten Beziehungen – und sind last but not least selbst erheblich suchtgefährdet, von der Arbeitssucht über Drogen und Alkohol bis hin zu Essen und Zigaretten.

Nicht selten finden sich merkwürdige Rollen, die sich im Familienkontext herausbilden und dort systemisch Sinn machen. In der Reihenfolge der Geschwister sind die ältesten meistens HeldInnen, die z.B. per Arbeitssucht die positive Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die nächsten sind meistens Sündenböcke, die es umgekehrt machen: Auch über Negatives erhalte ich Zuwendung, z.B. über Drogenkonsum, frühere Schwangerschaft etc. Die dritten Kinder bleiben oft unbeachtet, sind verloren, neigen deshalb zu Tagträumen, aber auch oraler Ersatzbefriedigung durch Essen. Die jüngsten schließlich sind meistens Maskottchen oder Clowns, wenig realitätssüchtig, die bei häufig gestörter Elternbeziehung noch lange zu Hause bleiben sollen.

> Obwohl viele nicht mehr bei einem alkoholkranken Elternteil leben, können sie ihr Leben als Erwachsene nicht meistern, weil sie gefühlsmäßig immer noch besonders stark an die Familie gebunden bleiben. Andere haben erst jetzt (manchmal erst jenseits der Lebensmitte! - der Verf.) gemerkt, dass die Schrecken des Alkoholismus schmerzhafte Nachwirkungen hinterlassen haben. Letztere wirken sich weiterhin auf ihre Beziehungen, ihr Selbstwertgefühl und auf ihre Gefühle für das Familienleben aus.<

Stadien der Co – Abhängigkeit
Während der Süchtige immer tiefer in die Abhängigkeit gerät, seine Suchtkarriere unbewusst vorantreibt, sind auf der anderen Seite fast stereotyp Ausgleichsmechanismen zu beobachten, die man als Co – Abhängigkeitskarriere beschreiben kann. Da wird zuerst beschützt und erklärt (> Ein Ausrutscher! Kreislaufschwäche...< etc.), später kontrolliert, z.B. Alkohol gesucht und weggeschüttet, zuletzt in das Anklagestadium übergegangen. In der Arbeit heißt es dann z.B.:> Wir haben alles versucht. Wir sind am Ende! < Ihre Wut richten alle auf den Süchtigen: Bloß weg mit dem! PartneInnen von AlkoholikerInnen tun sich viel schwerer: Auch sie drohen jahrelang mit Scheidung, womöglich auch mit Selbstmord, denken heimlich an Mord etc.. Sie kümmern sich um nicht bezahlte Rechnungen, um den verlorenen Führerschein, um Krankschreibungen etc. Das eigene Leben wird völlig vernachlässigt. Die Angehörigen werden Teil eines kranken Systems, tragen zu seiner Stabilisierung bei.
Drei Fragen können schon helfen, ein Alkohol– oder Drogenproblem eines Familienmitglieds auszumachen:

Paradoxerweise greift die >Hilfe< der Co– Abhängigen nicht. Im Gegenteil, oft verschärft sie das Suchtproblem. Die Bilanz der Hilfe ist miserabel. Der Wunsch nach Heilung vor allem bei Partnerinnen von Alkoholikern kann sogar dazu pervertieren, lieber einen kranken als gar keinen Partner mehr zu haben. Auch in Filmen (>Die Frau meines Lebens<) ist dargestellt worden, dass manchmal alle Register gezogen werden, um den Partner zum Rückfall zu nötigen. (>Drei Tage war der Vater krank, jetzt säuft er wieder, Gott sei Dank!<) In einem verrückten System besteht immer die Gefahr, selbst verrückt zu werden.
Stadien der Motivation

Wie bei den Suchtkranken selbst, so beginnt bei Angehörigen die Motivation im Kopf, mit der Erkenntnis aus schwerem Leiden heraus: >So geht es nicht mehr weiter!<
Als nächster Schritt die Einsicht:> Ich brauche Hilfe!< Auch dann kann es noch lange dauern bis zum Griff zum Telefonhörer:> Ich suche mir Hilfe. Ich bin bereit, Hilfe anzunehmen.< Dazu muss der vielleicht schwierigste Schritt, aus der – schamhaft selbst gewählten – Anonymität heraus getan werden. Es erfordert das Bekenntnis, dass hinter der schönen Fassade einer angeblich intakten Familie die Hölle los ist. Dieser Schritt wird nicht immer getan. Es geht – und das ist nicht übertrieben – bis zum Tragödie. Das sind die Geschichten, die wir vorzugsweise in den Morgenzeitungen lesen können:> Harmloser Familienvater läuft Amok.< Über die Motive wird gerätselt. Allerdings steht da in einem Nebensatz etwas von zunehmendem Alkoholkonsum, Verlust der Arbeit und finanziellen Problemen...
Zur Hilfsbedürftigkeit zu stehen, ist Stärke, nicht Schwäche. Das wird von Co – Abhängigen lange nicht so gesehen. Sie sind schließlich gesund und stark, überlebensgroß:
>Wir sind die Retter, die Möglichmacher. Wir sind die großen Göttinnen und Götter der ganzen Welt.< Es ist angenehmer, per Definition der oder die Gesündere zu sein, auch mehr Macht zu haben. Moralisch auf den anderen herabsehen zu können.

"Helfen genießt hohes Ansehen in der Bevölkerung".
Die Übergänge zwischen sinnvoller und dringend notwendiger menschlicher Hilfe und Co–Abhängigkeit sind fließend. Auch Helferinnen aller Fachrichtungen müssen sich das z, B. immer wieder vor Augen führen. Der eigene Leidensdruck durch psychosomatische Beschwerden, durch eigene Süchte und andere psychische Probleme muss oft über Jahre anwachsen, bis Angehörige endlich zum Handeln bereit sind.

Die Schamschwelle überschreiten

> Am Anfang des Genesungsprozesses lernen die Angehörigen loszulassen und werden bereit, ihr Gefühlsleben von dem des Alkoholikers zu trennen. Neue in Al - Anon missverstehen dies oft genug als Gefühlskälte oder Gleichgültigkeit. Manche denken sogar, dass damit auch eine körperliche Trennung vom Alkohol verbunden sei. Fachleute können diesen Neuen dabei helfen, die praktische Notwendigkeit loszulassen, zu verstehen, was bedeutet, sich nur soweit zurückzuziehen, dass die natürlichen Konsequenzen des Trinkverhaltens dem Alkoholiker überlassen werden und man ihm bei seinen Bemühungen um ein neues Leben nicht im Wege steht.<

Wege aus der Abhängigkeit – Unabhängig sein

Loslassen ist also das Zauberwort. Es gehört zum Arsenal des Konzepts von KLAR bzw. KLARHEIT (Ziegler, Kolitzus, Arenz-Greiving). Nach meinen Vorstellungen steht die Klarheit insgesamt gegen den Sumpf, die Unergründlichkeit und die Unsicherheit, die Sucht für die Kranken und für die Angehörigen bedeutet. Nur mit einem klaren Konzept im Kopf ist der Weg zu geistiger und seelischer Gesundheit möglich.

K bedeutet Konfrontation, aber auch Konsequenz. Ich lasse es nicht mehr zu, dass die Sucht mein Leben dirigiert.
L steht für Loslassen, aber auch Lenken. Das bedeutet, sich in einem Gespräch mit dem in seiner Krankheit trickreichen Suchtkranken nicht über den Tisch ziehen zu lassen, den Fokus A wie Alkohol beizubehalten.
A steht für Abgrenzen gegenüber gefühlsmäßigen Übergriffen in Form von Wut oder, nicht besser, von Sentimentalität und Selbstmitleid (> ich armes Schwein! Du musst mir doch helfen, wie du es so oft getan hast! Ein letztes Mal, bitte!<)
R heißt schließlich Ruhe bewahren, sich emotional in gesunder Form abgrenzen und nicht irritieren lassen.
Arenz – Greiving hat dem hinzugefügt:
H wie Humor, also Heiterkeit und Leichtigkeit,
E wie Ehrlichkeit mit sich selbst und anderen,
I wie Intelligenz – soziale Intelligenz, Einfühlungsvermögen, Sensibilität,
T wie Toleranz, die Gefühle, Gedanken und Erfahrungen anderer gelten lassen.

Der therapeutische Prozess mit Angehörigen ist in der Regel, von Ausnahmen abgesehen, leichter und wesentlich kürzer als der von Suchtkranken. Vor allem, wenn keine eigenen Süchte die Situation verkomplizieren. Im Sinne eines Mobiles ist es völlig gleichgültig, wer als Erster aus dem pathologischen (Un-) Gleichgewicht aussteigt.
Angehörige stehen unter einem hohen Leidensdruck. Sie haben ihr eigenes Leben noch weitgehend im Griff, oft sogar das des Süchtigen gleich mit. Sie wollen Ballast loswerden, wieder Freude am Leben empfinden. Natürlich sind auch ihre Einsichten nicht immer erfreulich: > Erst war ich einsam, dann war ich co-abhängig, habe von meinem Partner ein Kind bekommen, mit ihm gelebt und gelitten –jetzt bin ich wieder einsam, aber doch viel glücklicher.<

Alkoholismus und andere Süchte – das größte sozialmedizinische Problem unserer Gesellschaft

Diese Feststellung ist meines Erachtens objektiv richtig, wird aber von der Gesellschaft so nicht gesehen. Welcher Politiker lässt sich auf Tagungen von Suchthelfern oder Selbsthilfeorganisationen blicken? Sie lassen sich z.B. als Schirmherren von Veranstaltungen ausdrucken, um dann kurzfristig abzusagen. Journalisten sollen Diskussionen leiten, um dann Besseres vorzuhaben – wie ein bekannter Talkmaster. Lorbeeren oder Wählerstimmen sind bisher mit dem Thema Co-Abhängigkeit nicht zu gewinnen, nicht einmal Geld.
Welcher Politiker, welche Partei tritt ein für das gesundheitspolitisch höchst erstrebenswerte Ziel, den Pro-Kopf-Konsum an Alkohol zu senken, damit unsere gigantischen Folgekosten – in EURO und vor allem in menschlichem Leid – endlich wieder zurückgehen?

Acht Millionen Menschen müssten eigentlich eine dankbare Zielgruppe sein. Es wird Zeit, dass sie sich über die Selbsthilfegruppen hinaus artikulieren und zusammenschließen. Weg von der ausschließlichen Diskussion um Zuschüsse für Substitutionen etc. hin zur Hilfe für Menschen, die weitgehend unschuldig in Not geraten sind, genauso wie viele Opfer von Gewaltverbrechen.

Forschungsbedarf
Wie viele Angehörige – PartnerInnen von AlkoholikerInnen, erwachsene Kinder von Alkoholikern, ArbeitskollegInnen – werden unerkannt in psychosomatische Kliniken auf > Depressionen< und die Vielfalt psychosomatischer Beschwerden behandelt, ohne dass die zentrale Problematik ihres Lebensdrehbuches überhaupt zur Sprache kommt? Wie könnte man, auf entsprechenden Erkenntnissen aufbauend, andere Konzepte finden, um ihnen adäquat zu helfen? Angehörige Suchtkranker können wahrlich sagen, sie >tragen ein Kreuz< und haben es dann im Rücken. >Das hältst du ja im Kopf nicht aus!< Viele Menschen ziehen die Verdrängung in die Körpersymptome vor. >Das hat doch mit meiner Psyche nichts zu tun. Lassen sie mich in Ruhe damit! Das liegt doch alles so lange zurück.<
Wie häufig sind Helfer/-innen co–abhängig? Das ist nach meinen Beobachtungen fast die Regel. Die selbst gestellte Frage muss immer wieder lauten: > Was ist Hilfe, was ist kontraproduktives, falsch verstandenes Mitleid? < In der Ausbildung von HelferInnen muss dringend die Information über Co-Abhängigkeit enthalten sein. Auch Lehrer sollten besser Bescheid wissen über die Symptome und Auswirkungen von Sucht in Familien. Dann würde sich so mancher >Fall< eines schwierigen Schülers schlagartig lösen.
Dass die Ausbildung in den Universitäten sogar im Bereich der Psychiatrie unvollständig und mangelhaft ist, wurde in den letzten Jahren mehrfach belegt. An manchen Lehrstühlen zeichnet sich eine Besserung ab. Aber zum Thema Co – Abhängigkeit ist noch viel nachzuholen. PsychotherapeutInnen wissen ebenfalls zu wenig über Sucht und Co. Bei PsychologInnen scheint es etwas besser auszusehen als bei Ärzten.

Öffentlichkeitsarbeit
In der Hilfe für Suchtkranke und beim Problem der Angehörigen muss eine qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden. Wenn die Sucht – und Werbe – Industrie mit maßlosen Werbekampagnen neue Probleme produzieren kann und darf, müssen originelle Antithesen bzw. Reklame für ein gesundes Leben genau so Aufmerksamkeit erregen, damit Fortschritte erzielt werden können.
Sicher wird die Verkündung eines den Angehörigen Suchtkranker gewidmeten Jahres schon einiges bewirken. Wir müssen spektakulärer und frecher werden, um die Öffentlichkeit auf die Tragödien in vielen deutschen Familien aufmerksam zu machen. Es geht hier um eine gesunde Gegenaggressivität für eine gesunde Sache. Genau die gleiche Kraft, die auch die Angehörigen Suchtkranker erleben.

Quelle: Auszüge aus dem „Jahrbuch Sucht“